2008 ereignete sich etwas, das im Fach der Wirtschaftswissenschaften selten vorkommt: Ein Ökonom gab öffentlich zu, dass er sich schuldig fühlt. Und es war nicht irgendein Ökonom, sondern der Nobelpreisträger und Experte des internationalen Handels Paul Krugman.

Was hat dieser Mann verbrochen, dass er sich nun schuldig fühlte? Ganz einfach, er propagierte lange Zeit eine Ausweitung der Globalisierung und des internationalen Handels. Negative Effekte konnte er nicht erkennen. Doch 2008 stellte er fest, dass er sich irrte. Nun muss man wissen, dass dieser Mann in der amerikanischen Politik eine wichtige Rolle spielt. Anders als in Deutschland hört man dort schon eher auf Ökonomen.

Doch worin hat sich Krugman genau geirrt? Er war überzeugt, dass Globalisierung und internationale Handel die Einkommensungleichheit in den USA nicht verursacht hatten. Nun musste er zugeben, dass er sich wahrscheinlich irrte. Warum war das so ein besonderes Eingeständnis?

Um das zu verstehen, wollen wir uns heute das vierte Argument gegen den Freihandel anschauen: Unfairer Wettbewerb

Warum EU-Agrarprodukte in Afrika so günstig sind

Es gehört zu den ältesten Argumenten gegen den Freihandel; der unfaire Wettbewerbsvorteil. Abgesehen von der schwierigen Frage, was Fairness eigentlich bedeutet, wurde dieses Argument von den meisten Ökonomen abgelehnt. Schauen wir uns ein Beispiel genauer an.

Die EU subventioniert ihre Landwirtschaft massiv. Diese Subventionen regen unsere Landwirte an, mehr zu produzieren, als wir eigentlich konsumieren können. Ferner garantiert die EU unseren Wirten einen Mindestpreis, der über dem Weltmarktpreis liegt. Ohne diese Subventionen hätte es unsere Landwirtschaft schwer, mit anderen Ländern zu konkurrieren. Alles was die Landwirte in der EU nicht absetzen können, verkaufen sie auf dem Weltmarkt zu Dumpingpreisen. Das können sie nur durch Exportsubventionen tun. So geschah es, dass europäisches Fleisch in Afrika günstiger zu kaufen war als das heimische Fleisch; wohlgemerkt trotz Transport- und sonstiger Transaktionskosten. Viele afrikanische Landwirte konnten mit diesen Dumpingpreisen nicht konkurrieren und gaben ihre Arbeit auf.

Ist das unfairer Wettbewerbsvorteil? Ja und im Grunde gehört er verboten. Es ist ein Paradebeispiel für unfairen Wettbewerb. Trotzdem sehen Ökonomen diese Praxis gelassener als viele Kritiker des Freihandels. Sie sehen den Wohlfahrtsverlust - europäische Bürger zahlen schliesslich die Subventionen - und betrachten es als schlechte Politik. Aber das ist Politik oft. Wenn die EU-Bürger diese Subventionen zahlen wollen, dann sollen sie das tun.

Doch wie nehmen es afrikanische Staaten auf? Afrika hätte allen Grund den Handel mit EU zu verbieten, oder etwa nicht?! Das stimmt zwar, aber trotzdem profitieren diese Staaten davon. Afrikanische Verbraucher zahlen schließlich nicht diese Subventionen, das tun die EU-Verbraucher. Die Afrikaner zahlen nun aber wenig für Agrarprodukte. Selbst wenn die afrikanischen Landwirte ihre Jobs verlieren, so erfreuen sich die afrikanischen Bürger an den günstigen Preisen. Und tatsächlich hat die EU heute Probleme ihren Agrarsektor zu liberalisieren, weil einige afrikanische Länder Kompensationen fordern. Wenn die EU die Landwirte nicht mehr subventioniert, dann zahlen die afrikanischen Verbraucher wieder mehr für Fleisch und co.

Wem gegenüber ist diese Politik also unfair?

Gegenüber den EU-Bürgern und den afrikanischen Landwirten. Aber wenn die Verbraucher profitieren, dann kann auch diese Praxis ihre Vorteile haben. Aus diesem Grund erkennen die wenigsten Ökonomen dieses Argument gegen den Freihandel - der hier natürlich nur künstlich frei ist - an.

Können wir mit Entwicklungsländern tatsächlich konkurrieren?

Ich habe bewusst ein Beispiel gewählt, das zeigt, wie sehr Entwicklungsländer durch unfairen Wettbewerb der Industrieländer in Bedrängnis kommen. Tatsächlich haben sich viele Entwicklungsländer lange Zeit gegen die Öffnung ihrer Handelsschranken gewährt, weil sie mit Industrieländer nicht konkurrieren konnten.

Sie hatten Angst vor der starken Wirtschaft des Nordens.

Nun haben die Industrieländer ganz viel Angst vor dem Süden. Neuerdings hört man nur aus Industrieländern, dass der Wettbewerbsvorteil der Entwicklungsländer unfair ist.

Warum glauben wir, dass der Wettbewerbsvorteil unfair ist? Naja, die Löhne sind dort niedriger; die Sicherheits- und Qualitätsstandards ebenfalls und der Schutz der Umwelt noch nicht so ausgeprägt. So die Argumente des Nordens.

Ökonomen sehen das anders. Es mag zwar wie ein unfairer Wettbewerbsvorteil aussehen - wobei hier zumindest der Staat nicht künstlich eingreift, so dass ein natürlicher Wettbewerbsvorteil es besser treffen würde -, aber die Verbraucher in Industrieländern profitieren nun von günstigen Preisen. Selbst wenn gewisse Sektoren in Industrieländern aussterben, so profitieren wir auch davon. Insofern kein Grund zu Panik. Noch weniger als in Afrika, den in reichen Ländern haben Menschen, die Jobs verlieren, mehr Möglichkeiten in anderen Bereichen unterzukommen.

Und auch Paul Krugman sah lange Zeit keinen Grund, den freien Handel zu verdammen.

Warum hat Paul Krugman seine Ansicht revidiert?

Mit der Ausweitung des Handels fielen die Preise für Waren und Dienstleistungen - was ein typischer Effekt des Handels ist -, doch auch die Löhne für Arbeiter sind gefallen, während die Ungleichheit der Einkommensverhältnisse stieg - das gehört nicht unbedingt zu typischen Effekt des Handels. Ökonomen diskutieren seither, warum diese Ungleichheit so zugenommen hat. Ist die Globalisierung und der Handel Schuld an sinkenden Löhnen?

Lange Zeit galt als ausgemacht, dass es eher an der Digitalisierung und Technisierung lag, dass Löhne zunehmend gesunken sind. In vielen Industrieländern werden einfache Arbeiten durch Technik abgelöst. Geringqualifizierte Arbeiter werden also immer seltener benötigt. Doch einige Menschen waren überzeugt, dass eher der internationale Handel die Löhne zum sinken brachte und die Einkommensungleichheit vertiefte.

Und 2008 gab Paul Krugman zu, das es vielleicht stimmt. Handel ist nicht ausschließlich dafür verantwortlich, aber definitiv mitverantwortlich. Was war also 2008 anders als 2000 oder 1990? Krugman erkannte, dass Entwicklungsländer nun intensiver am internationalen Handel partizipieren und dass die Löhne dieser Länder heute um ein vielfaches niedriger sind im Vergleich zu den Löhnen der Industrienationen. Der Norden hat auch früher mit dem Süden gehandelt, aber nicht in so einem großen Umfang und allen voran waren die Einkommensunterschiede zu Entwicklungsländern nicht so gravierend.  

Ist es also für reiche Staaten gefährlich mit armen Staaten Handel zu treiben? Ist es unfair gegenüber den Arbeitern in Industrienationen? Ja und nein. Es ist kein unfairer Vorteil, dass Entwicklungsländer niedrige Löhne haben. Es ist ein Armutsphänomen. Aus Sicht der reichen Länder kann es aber als unfair gewertet werden. Natürlich verlangt ein europäischer Arbeiter mehr Lohn für seine Arbeit und natürlich kann er niemals mit einem Arbeiter in China oder Indien konkurrieren.

Durch die vertiefte Handelsintegration sind tatsächlich viele Sektoren in Industrienationen in Bedrängnis geraten. Handel produziert immer Verlierer. Das muss nicht dramatisch sein, sofern die Arbeiter in anderen Branchen unterkommen können. Aber mittlerweile sind einige Entwicklungsländer, wie China und Indien, in vielen Bereichen sehr einflussreich geworden. Arbeiter aus reichen Nationen konkurrieren heute in sehr vielen Sektoren mit Arbeitern aus armen Nationen und das drückt die Löhne herunter. Es gibt zwar Bereiche, wo Wissen und Fertigkeiten noch sehr gut entlohnt werden, aber auch dieses Spezialwissen wandert ab.

Wir konkurrieren heute global und beginnen zu spüren, dass diese Konkurrenz sehr schmerzhaft sein kann. Für Entwicklungsländer ist das eine gute Entwicklung, für Industrieländer zunehmend beängstigend.

Wird TTIP den unfairen Wettbewerb begünstigen?

Diese Frage ist schwer zu beantworten. USA und Europa haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Aber ein Aspekt der TTIP-Kritiker, wie von Thilo Bode oder Franz Kotteder formuliert, könnte stimmen: USA haben geringere Arbeitsstandards als Europäer. TTIP könnte dazu führen, dass Europa einige seiner Arbeitsstandards abbauen wird. Prinzipiell könnten sich Amerikaner verpflichten, ihre Standards anzuheben, aber das ist unwahrscheinlich. Eine zweite Lösung - die wohl von den Verhandlungsführern auch anvisiert wird - könnte so aussehen, dass beide Wirtschaftsblöcke ihre eigenen Standards beibehalten und schützen können.

Doch das birgt eine Gefahr. Die vertiefte Integration der Blöcke könnte indirekt die Löhne drücken und die Konkurrenz noch mehr vertiefen. In einer Freihandelszone sinken die Transaktionskosten. Transaktionskosten verringern gewöhnlich den Handelsfluss, so dass es heute darum geht, solche Kosten zu vermindern. Es gibt auch wirklich unsinnige Kosten, wie die zweifache Zulassungsprüfung von Gütern in Amerika und Europa. Aber genauso gibt es auch Transaktionskosten, die eine gute Wirkung haben können. Wenn ein Unternehmen sich ganz problemlos dort ansiedeln kann, wo es am günstigsten produzieren kann, dann ist das für dieses Unternehmen gut, aber es bringt Arbeiter und Staaten in Bedrängnis.

Handelspolitik ist heute zum großen Teil ein Konkurrenzkampf um Direktinvestitionen. Staaten wollen, dass Unternehmen in ihrem Land investieren und bieten deshalb gute Konditionen. Regulierungen und Vorgaben sind hier die Transaktionskosten, die es abzuschaffen gilt. Selbst wenn TTIP jedem Land erlaubt, Standards selbst festzulegen, so ist die Gefahr trotzdem gegeben, dass man nur dann Direktinvestitionen anzieht, wenn man diese Standards lockert. Schliesslich können sich Unternehmen durch verringerte Transaktionskosten die Standorte immer einfacher selbst wählen. Insofern könnte es zu einem Abbau von Standards in einigen Bereichen kommen.

Wenn Amerika europäische Firmen mit geringeren Arbeitsstandards und lockeren Arbeitsverträgen lockt, dann ist die Versuchung groß, die Produktion oder Dienstleitungen dorthin zu verlagern. Die Wirtschaft kennt zunehmend keine Grenzen, Politik wird hingegen weiterhin von Nationalstaaten gemacht und die konkurrieren eben um diese Investitionen. Unfairer Wettbewerb könnte so zunehmen.

Das muss nicht passieren und ich sehe die große Gefahr nicht in TTIP, sondern eben in der Konkurrenz zu Entwicklungsländer wie China und Indien. TTIP ist ja gewissermaßen ein Versuch, China einzudämmen. Vor diesen Wirtschaftsblöcken müssen wir uns wirklich fürchten, obwohl ich es Entwicklungsländern am meisten gönne, dass sie die Leiter nach oben erklimmen.