Freiheit. Ein inflationär genutzter Begriff, oder?! Sie dient zu Legitimation von fast allem: Aufstand, Widerstand, Einmarsch, Krieg, Bombardierungen, Spionage und vielem mehr. Kaum ein politischer Hollywood-Film kommt ohne Freiheit als Motiv aus. Unsere ganze Gesellschaftsordnung basiert auf diesem Wort. Und fast alles, was unsere Politiker unternehmen, tun sie im Namen der Freiheit. Da vergisst man schonmal, was es mit der Freiheit aufsich hat.

Es wird Zeit den Begriff von seiner inflationären Nutzung zu reinigen, um die Idee dahinter wieder zum Scheinen zu bringen. Das tut man am besten mit Hilfe des großen Ökonomen und Philosophen Amartya Sen.

Noch nie von ihm gehört?! Es wird Zeit.

Amartya Sen erhielt 1998 den Wirtschaftsnobelpreis. In seinem Fachgebiet war dieser Mann schon lange eine bekannte Größe, der breiten Öffentlichkeit hingegen unbekannt. Man erzählt sich eine schöne Anekdote über die Verleihung des Nobelpreises. Viele Kommentatoren wussten nicht für welche Leistung er ihn erhalten hat. Die Konfusion liegt im Umstand begründet, dass Sen sich in sehr unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaftswissenschaft verdient gemacht hat.

Er forschte über Hungersnöte, im Bereich der Entwicklungsökonomie und bemühte sich Ethik mit Ökonomie zu versöhnen. In allen diesen Bereichen leistete er Großes. Letztendlich erhielt er den Nobelpreis für seinen Beitrag zur Wohlfahrtsökonomie. Insbesondere seine Sozialwahltheorie als auch die erweiterte Definition von Armut als Mangel an Verwirklichungschancen erschien dem Komitee besonders relevant.

Sein 1999 erschienenes Buch Development as Freedom, deutscher Titel Ökonomie für den Menschen, ist gewissermaßen eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse, Gedanken und Arbeiten. Der Ausgang dieses Werkes, ist die Frage, wie Entwicklung am besten definiert werden kann.

Erweiterung von Verwircklichnungschancen

Sens leitende These lautet, dass Entwicklung ein Prozess ist, der die realen Freiheiten von Menschen erweitert, ein gutes Leben führen zu können. Negativ formuliert, bedeutet Entwicklung, die Beseitigung von Unfreiheiten, die Menschen daran hindern, das Leben zu führen, das sie Grund haben zu schätzen. Dazu zählt beispielsweise die Beseitigung von Despotismus, fehlenden ökonomischen Chancen, Ungleichheit zwischen den Geschlechter, Hunger und vieles mehr.

Der Perspektivwechsel, der mit dieser Definition von Entwicklung einhergeht, ist gravierend, wie noch deutlich wird.

Stellt man gemeinhin die Frage, woran wir messen können, wie entwickelt eine Gesellschaft ist, dann ist die erste Antwort der Verweis auf das Bruttosozialprodukt, das durchschnittliche Einkommen oder der Industrialisierungsgrad einer Gesellschaft.

Diese Betrachtung hat natürlich eine gewisse Plausibilität. Menschen, die ein hohes Einkommen haben, leben gewöhnlich ein besseres Leben. Allerdings hat der Fokus auf den Indikator Einkommen einige Schwächen. Einkommen ist zunächst nur ein Mittel zum Zweck. Wichtiger als die Höhe des Einkommens, ist die Frage, wie Menschen Geld in ein gutes Leben umwandeln können. Aber genau das verrät der Indikator Einkommen nicht. Gleichzeitig hängt das Wohl einer Gesellschaft von vielen anderen Faktoren ab, so z.B. der Möglichkeit am politischen Leben zu partizipieren, oder auch von der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, um nur zwei Aspekte anzuführen. Auch darüber verrät uns der Indikator Einkommen wenig.

Entwicklung als Erweiterung von Freiheiten zu betrachten, erlaubt uns hingegen, sowohl das Einkommen zu betrachten als auch viele andere Faktoren, die dazu beitragen, ein gutes Leben führen zu können.

Die Rolle der Freiheit für den Entwicklungsprozess

Die zentrale Rolle der Freiheit für den Entwicklungsprozess hat nach Sen zwei Gründe.

1. Der evaluative Grund

Der Fortschritt einer Gesellschaft kann danach beurteilt werden, ob die Freiheiten der Menschen zugenommen haben. Erfolg und Misserfolg kann mit dem Indikator Freiheit gemessen werden.

2. Der Effektivitätsgrund

Freiheit ist nicht nur eine Bewertungsgrundlage von Erfolg und Misserfolg, sondern auch eine Determinante von individueller Initiative und Wirksamkeit. Menschen, die substantielle Freiheiten genießen, tragen mit zum Entwicklungsprozess bei. Sie sind nicht bloß passive Empfänger sondern aktive Teilnehmer am Entwicklungsprozess.

Fünf instrumentelle Freiheiten, die besonders wichtig sind

Sen nennt fünf instrumentelle Freiheiten, die für den Entwicklungsprozess eine besondere Relevanz haben. Allerdings könnten sie beliebig erweitert werden.

1. Politische Freiheiten

Die Demokratie steht heute oftmals in Kritik und immer mehr Menschen empfinden eine Politikverdrossenheit. Bis zu einem gewissen Grad gehört diese Unzufriedenheit zu einer Demokratie. Letztlich ist es das einzige System, dass überhaupt erlaubt, dass Menschen ihre Unzufriedenheit äußern können. Genau das übersehen viele Bürger. Bis heute gibt es noch viele politische Systeme, die eine freie Meinungsäußerung unterbinden. Sen sieht gerade deshalb in der Durchsetzung der Demokratie eine große Errungenschaft. Politische Freiheiten, Bürgerrechte, eine freie Presse erweitern die Möglichkeiten der Menschen, ein gutes Leben führen zu können. An dieses Gut werden wir immer dann erinnert, wenn uns eine Schreckensmeldung aus einer Diktatur erreicht, die verdeutlicht, was es bedeutet, diese Freiheit nicht zu genießen.

2. Ökonomische Einrichtungen

Das Gleiche gilt für die freie Marktwirtschaft, die heute ebenfalls stark kritisiert wird. Neuerdings hört man nur die negativen Konsequenzen dieser Wirtschaftsform. Sen möchte hier nicht den Kapitalismus verteidigen, sondern darauf verweisen, wie die Möglichkeiten von Menschen aussehen, wenn ein Markt nicht vorhanden oder unterentwickelt ist.

Der Ökonom Jagdish Bhagwati pflegt immer zu sagen, dass ein Problem der Entwicklungsländer darin besteht, dass Adam Smith unsichtbare Hand nirgendwo zu sehen ist. Damit möchte er eben ausdrücken, dass die Länder sich so langsam entwickeln, weil ein Markt dort unterentwickelt ist. Wo ein Markt nicht vorhanden ist, sind die Menschen in Ihren Leben enorm beschnitten. Auch das vergessen wir immer wieder und auch hier werden wir nur durch Schreckensnachrichten daran erinnern. Es ist ein Luxus, in ein Einkaufszentrum zu gehen, um alles Notwendige und nicht Notwendige kaufen zu können. Diese Freiheit steht vielen Menschen noch nicht zur Verfügung.

Für Sen bieten ökonomische Einrichtungen die Freiheit, am Tauschhandel partizipieren zu können, aber auch Chancen, ökonomische Ressourcen überhaupt zu nutzen. Ferner können Fragen der Verteilungsgerechtigkeit nur dann adäquat diskutiert werden, wenn ein Markt vorhanden ist, der überhaupt etwas verteilt.

3. Soziale Chancen

Eine weitere Freiheit liegt in den sozialen Chancen verborgen, die eine Gesellschaft den Menschen bietet. Hierzu zählen insbesondere funktionierende Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Nur wenn ein Mensch die Freiheit hat, ein langes Leben führen zu können, kann man von gelungener Entwicklung sprechen. Das Gleiche gilt für die Chance auf Bildung.

4. Transparenzgarantien

Eine Gesellschaft bedarf einer gewissen Vertrauensbasis unter den Bürgern, deshalb muss die Möglichkeit eingeräumt werden, dass Offenheit und Transparenz über gesellschaftliche und politische Prozesse gewährleistet werden. Das schafft Vertrauen und beugt Korruption vor.

Ein Beispiel findet sich in einer funktionierenden und effizienten Bürokratie. Deutsche kritisieren gerne den öffentlichen Sektor, weil dieser angeblich langsam und ineffizient agiert. Tatsache ist, dass die Bürokratien gerade in Deutschland sehr gut funktionieren und Korruption eher ein Randthema ist. In der Entwicklungszusammenarbeit hat sich in den letzten Jahren gerade die Einsicht durchgesetzt, dass viele Länder eben wegen einer korrupten und langsamen Verwaltung so Schwierigkeiten haben, substantielle Fortschritte zu machen. Die deutsche Verwaltung gehört nicht zu dieser Kategorie.

5. Soziale Sicherheit

Weil Menschen immer wieder in Notlagen geraten können, bedarf es gewisser Sicherungsmaßnahmen, um die Härten des Lebens abzufedern. Hierzu zählt insbesondere eine Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe.

Amartya Sen nennt diese Freiheiten instrumentell, weil sie die Verwirklichungschancen (capabilities) von Menschen vergrößern, das Leben zu führen, das sie Grund haben zu schätzen.

Gleichzeitig ergänzen sich die Freiheiten gegenseitig. Politische Freiheiten tragen beispielsweise dazu bei, ökonomische Sicherheit zu fördern. Soziale Chancen erleichtern die Teilnahme am ökonomischen und politischen Prozess. Wirtschaftliche Einrichtungen vermehren den Wohlstand einer Gesellschaft.

Amartya Sen hat in dieser Hinsicht ein interessantes Verständnis von Freiheit. Typisch für einen liberalen Denker setzt Sen mit seinen Freiheiten und Verwirklichungschancen auf die individuelle Verantwortung von Menschen. Wie Menschen ein gutes Leben definieren, ist jedem selbst überlassen. Ferner liegt es in der Verantwortung des Einzelnen, diese Freiheiten und Verwirklichungschancen zu nutzen. Sen glaubt allerdings - und das setzt ihn ab von vielen anderen liberalen Denkern - dass wir nur dann von einer individuellen Verantwortung sprechen können, wenn die Gesellschaft die Grundlagen dafür gelegt hat. Die Gewährleistung der fünf instrumentellen Freiheiten fällt deshalb in den Verantwortungsbereich der Gesellschaft.

Dieses Wechselspiel von individueller und gesellschaftlicher Verantwortung ist Amartya Sen sehr wichtig. Ob ein Mensch in einem reichen oder armen Land geboren wird, ob gesund oder behindert, spielt natürlich eine Rolle, wenn man fragt, welche Möglichkeiten dieser Mensch hat. Das Individuum agiert nicht in einem luftleeren Raum. Deshalb ist es die Verantwortung der Gesellschaft, jedem Menschen ein großes Maß an Freiheiten und Verwirklichungschancen zu bieten. Nur unter günstigen Bedingung kann ein Mensch seine individuelle Verantwortung wahrnehmen.

Eine Definition nicht nur für Entwicklungsländer

Worin liegt nun das Neue seiner Definition von Entwicklung? Zunächst einmal liefert uns Sen eine viel breitere Definition von Entwicklung als es beispielsweise der Fokus auf das Einkommen leisten kann. Sen äußert einige Kritikpunkte am Einkommen, die überzeugend sind.

Beispielsweise übersieht man dann leicht, dass nicht jeder Mensch das Einkommen in gleicher Weise umwandeln kann, um das Leben zu führen, dass er führen möchte. Wenn zwei Menschen das gleiche Einkommen erhalten, einer von ihnen aber behindert oder krank ist, dann sind die Verwicklichungschancen doch sehr unterschiedlich. Solche Ungleichheiten im Hinblick auf die Umwandlung von Einkommen in Lebensqualität - Sen spricht von Funktionen - werden hier oft übersehen.

Der Fokus auf Verwirklichungschancen erlaubt gerade solche konkreten Unterschiede zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht eignet sich sein Befähigungs-Ansatz / Verwirklichungschancen-Ansatz (capability approach) auch zur Analyse von Industrieländern, die gemeinhin als sehr entwickelt betrachtet werden.

Sen gibt einige Beispiele, die das verdeutlichen.

Afroamerikanische Männer und Frauen in den USA haben gemeinhin ein viel höheres Einkommen als beispielsweise Inder, Brasilianer, Chinesen oder Südafrikaner. Trotzdem haben sie eine geringere Lebenserwartung als viele Menschen aus diesen Entwicklungsländern. Wenn man nur das Einkommen betrachtet, dann könnte man solche Unterschiede und Unfreiheiten - in diesem Fall die Freiheit ein langes Leben zu führen - nicht ausmachen. Wenn man aber auf die Verwirklichungschancen blickt, dann wird deutlich, dass es auch in den USA einige Unfreiheiten gibt. Offensichtlich sind afroamerikanische Menschen nicht fähig, ihr Einkommen in ein längeres Leben umzuwandeln. Das liegt daran, dass die sozialen Chancen - hier die Gesundheitsfürsorge - in den USA eine gewisse Benachteiligung afroamerikanischer Menschen begünstigt. Sie sind selten krankenversichert.

Ein weiteres Bespiel für Unfreiheit finden wird, wenn wir das Sozialsystem Europas mit dem der USA vergleichen. Die Europäer haben ein elaboriertes Sozialsystem, dass Arbeitslosen ein recht hohes Einkommen bietet. Das wird als große Errungenschaft betrachtet. Doch wie fällt das Urteil aus, wenn man den Verlust des Arbeitsplatzes unter folgenden Aspekten betrachtet: Menschen, die keine Arbeit haben, erhalten weniger bis keine Anerkennung, sie können sich nicht selbst bestätigen und leiden oftmals unter Nebeneffekten, wie Depression. Arbeit ist eben nicht nur eine Einnahmequelle. Sen glaubt, dass die Arbeitslosigkeit in Europa teilweise deshalb so hoch ist, weil keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden und weil die Anreize, neue Arbeit anzunehmen, geringer sind. Aus diesem Blickwinkel ist das System doch noch verbesserungswürdig.

In den USA hingegen finden wir ein schwach ausgeprägtes Sozialsystem, aber die Chance neue Arbeit zu finden, ist höher. Das liegt sicherlich auch daran, dass die Anreize, eine neue Arbeit zu finden, höher sind. Wo das Einkommen durch Sozialhilfe zu gering ist, um davon wirklich leben zu können, dort sind die Menschen eher bereit irgendeine Arbeit anzunehmen. Hier soll gar nicht weiter diskutiert werden, welches System nun besser ist. Sen geht es einfach darum, zu zeigen, dass Einkommen nicht alles ist. Viele Sozialhilfeempfänger werden sicherlich bejahen, dass sie am meisten unter dem Ausfall von Anerkennung leiden.

Ähnlich sieht der Vergleich zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Gesundheitssystem aus. Die Amerikaner haben keine gesetzliche Krankenversicherung und mindestens 40 Millionen Menschen sind nicht versichert. Die geringere Lebenserwartung vieler afroamerikanischer Menschen hängt teilweise damit zusammen. In dieser Hinsicht sind ihre Verwirklichungschancen geringer, als die von Menschen in Europa, wo jeder Mensch krankenversichert ist.

Das sind nur einige Beispiele, die deutlich machen, dass auch die Industrieländer in einem Entwicklungsprozess stecken, der noch nicht abgeschlossen ist. Auch in diesen hochentwickelten Ländern gibt es Raum zur Verbesserung, sprich Raum die Verwirklichungschancen bzw. Freiheiten der Menschen zu vergrößern. In diesem Zusammenhang hat auch der 2. Armutsbericht der Bundesregierung die Vergrößerung von Verwirklichungschancen mit in seine Berechnung aufgenommen, um dringliche Probleme auszumachen.

Nachdem Sen einige Argumente präsentiert, die deutlich machen, warum sein Verständnis von Entwicklung besser geeignet ist, geht er dazu über konkrete Beispiele zu zeigen. Die Fülle seine Argumente ist so dicht und reichhaltig, dass es kaum möglich sein wird, hier alle zu diskutieren. Deshalb werden hier drei Kapitel näher beleuchtet, nämlich seine Ausführungen über Armut und über die Demokratie. Diese Bereiche sind nämlich besonders für Politikwissenschaftler interessant.

Armut definiert als Mangel an Verwirklichungschancen

Sen definiert Armut als einen Mangel an Verwirklichungschancen. Es sprechen drei Gründe für eine solche Definition von Armut.

1. Während Armut, definiert im Sinne eines niedrigen Einkommens, nur instrumentell bedeutsam ist, verweist der Mangel von Verwirklichungschancen auf einen intrinsischen Aspekt von Armut.

2. Armut wird noch von anderen Faktoren beeinflusst als nur vom niedrigen Einkommen.

3. Die Beziehung zwischen niedrigem Einkommen und Verwirklichungschancen ist variabel. Sie unterscheidet sich von Gesellschaft zu Gesellschaft (Bangladesch vs. USA), zwischen Individuen (krank vs. gesund) und Familien (Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern).

Die Schwäche des Indikators Einkommen liegt darin, dass er uns nichts darüber verrät bzw. ignoriert, ob und wie Menschen das Einkommen in Verwirklichungschancen umwandeln können. Was Menschen mit ihrem Einkommen erreichen können, hängt von sehr vielen Faktoren ab, z.B. Alter, Gesundheit, Geschlecht (Mutterschaft, Rolle der Frau), Wohnort (Überschwemmungsgebiete, Dürre), Seuchengebiete (Malarie, HIV/ AIDS) und anderem. Mein Vater pflegte immer zu sagen, dass es irgendwie ungerecht ist, dass gerade junge Menschen mit wenig Geld auskommen müssen, während sie das Geld viel besser gebrauchen könnten. Ältere Menschen sind gewöhnlich viel wohlhabender, obwohl sie dieses Geld nicht mehr so dringend brauchen. Ich fand seine Argumentation immer sehr nachvollziehbar.

Wie beispielsweise das Einkommen einer Familie verwendet wird, sagt noch nichts über Verwirklichungschancen aus. In einer Gesellschaft, in der Jungen mehr zählen als Mädchen, kann das ganze familiäre Einkommen dazu verwendet werden, die Jungen zu fördern, während Mädchen substantielle Chancen verwehrt bleiben. Sen hat beispielsweise für Südostasien nachgewiesen, dass ca. 100 Millionen Frauen fehlen, was mit Unterernährung, gesundheitlicher Unterversorgung, Krankheit und Vernachlässigung erklärt werden kann. Frauen zählen in diesen Gesellschaften weniger als Männer, weshalb ihre Chance zu überleben geringer ist.

Der Fokus auf Verwirklichungschancen erlaubt die Zwecke der Entwicklung zu untersuchen und nicht nur die Mittel. Gleichzeitig werden die Mittel der Entwicklung miteinbezogen, allerdings nicht nur Einkommen, sondern auch viele andere Aspekte, wie die fünf instrumentellen Freiheiten zeigen. Einkommen ist miteinbezogen in den ökonomischen Einrichtungen (Freiheit 2). Daneben gibt es aber auch noch politische Freiheiten. Sen gibt ein interessantes Beispiel: Ein Mensch, der sehr reich ist, der aber keine Möglichkeit hat, am politischen Leben zu partizipieren, ist vielleicht nicht im traditionellen Sinne arm, er ist aber sicherlich an Freiheiten arm.

Warum politische Freiheit ein wichtiger Indikator für Entwicklung ist

Seine Ausführungen zu politischen Freiheiten und zur Demokratie sind hier besonders interessant. Sen fragt zunächst, was bei der Entwicklung einen Vorrang haben sollte, die Beseitigung von Armut oder die Gewährung politischer Freiheiten und Bürgerrechte? Diese Frage wird in der Politikwissenschaft und Entwicklungszusammenarbeit immer wieder diskutiert.

Manche glauben, dass eine Demokratie den Wirtschaftswachstum bremsen kann, weshalb ein autoritäres System besser geeignet ist, um die Wirtschaft zum Blühen zu bringen. Diese Argumentation wurde insbesondere von Chinas und Südostasiens rapider Entwicklung befeuert. Für Amartya Sen ist das eine fundamental falsche Frage bzw. Sichtweise. Freiheitsrechte, die eine Demokratie gewährleistet - für Sen gehören politische Freiheiten und Demokratie zusammen - , haben drei unterschiedliche Funktionen:

1. Politische Freiheitsrechte haben einen intrinsischen Wert. Sie sind an sich schon wertvoll, unabhängig davon, ob sie zu mehr Wirtschaftswachstum führen oder nicht.

2. Sie haben eine instrumentelle Rolle, weil sie Menschen die Möglichkeit bieten, sich Gehör zu verschaffen. Nur in einer Demokratie können Menschen ihre Ansprüche geltend machen.

3. Sie spielen eine konstruktive Rolle, indem sie Menschen die Möglichkeit bieten, an dem Diskurs teilzunehmen, welche Ansprüche, wirtschaftliche Bedürfnisse, gesellschaftlichen Einrichtungen und vieles mehr für eine Gesellschaft wichtig sind.

Nun gibt es drei Kritikpunkte, die immer wieder genannt werden, wenn die Frage auftaucht, ob eine Demokratie in einem armen Land eingeführt werden soll.

Einwand eins gegen die Demokratie: Demokratien behindern wirtschaftlichen Wachstum

Da wäre zunächst der Glaube, dass politische Freiheitsrechte dem Wirtschaftswachstum und der Entwicklung im Wege stehen. Auch in der Politikwissenschaft findet sich immer wieder diese These, der zufolge autoritäre Regime ein viel rasanteres Wirtschaftswachstum haben.

Sen äußert zwei überzeugende Kritikpunkte an dieser These.

Erstens, gibt es sowohl Studien, die autoritären Regimen ein schnelleres als auch ein langsameres Wirtschaftswachstum bescheinigt. Das Argument ist bestenfalls unentschieden. Wichtiger als das politische Regime scheint ein freundliches Wirtschaftsklima zu sein.

Zweitens, wird mit dieser These suggeriert, dass die Beseitigung von Armut wichtiger ist als die Gewährung von Freiheitsrechten und das ist nach Sens Auffassung falsch. Freiheit ist selbst ein Ziel der Entwicklung und folglich auch dann wertvoll, wenn sie nicht unbedingt zu einem schnelleren Wirtschaftswachstum führt.

Einwand zwei gegen die Demokratie: Arme Menschen haben kein Interesse an politischen Freiheiten

Das zweite Argument gegen eine Demokratie behauptet, dass arme Menschen kein Interesse an politischen Rechten haben, sofern sie noch hungern müssen. Auch dieses Argument ist schon sehr alt. Sen verweist zunächst auf den Widerspruch, der hier anklingt: Man setzt etwas voraus, was durch eine Wahl eigentlich erst bewiesen werden müsste. Gerade aber diese Wahl wird nicht zugelassen. Im Gegenteil, Indien hat bewiesen, dass arme Menschen die Demokratie für wertvoll erachten. Als Indira Gandhi in den 1970er die Freiheitsrechte einschränken wollte, stimmte eine Mehrheit dagegen.

Dieses Argument wird gerne von den Machthabern benutzt, wenn es aber stimmen würde, dann hätten sie nichts zu verlieren, diese These einfach mal zu testen und eine Wahl zu erlauben. Genau das tun sie aber nicht.

Bevor das dritte Argument erläutert wird, bedarf es einiger Anmerkungen. Sen zählt einige Argumente auf, die für eine Demokratie sprechen. Erstens hat er bewiesen, dass es noch nie in einem demokratischen Staat zu einer Hungersnot gekommen ist. Das liegt an der instrumentellen Rolle der Freiheit. Menschen können protestieren und haben die Möglichkeit die Regierung abzuwählen. Die Regierung kann also die Belange der Bevölkerung nicht übergehen und sorgt Hungersnöten vor. Ein Katastrophenplan finden wir gewöhnlich nur in demokratischen Staaten.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an verschiedene Diskussionen mit Freunden, die insbesondere die demokratische Entscheidungsfindung kritisierten. Ihrer Ansicht nach blockierte das wichtige Gesetze und Vorhaben, weil alles zu langsam geht. Sie glaubten, dass ein autoritäres Regime viel schneller die Probleme angehen kann, weil nur einige wenige entscheiden. Sie haben dabei regelmäßig übersehen, dass ein solches System gegebenenfalls gar keine Probleme erkennt, weil eben auch Proteste unterbunden werden. Ferner fand ich sehr zweifelhaft, ob die Herrschenden immer die richtigen Reformen einleiten. Meine Freunde haben angenommen, dass wenn jemand schnell entscheiden kann, er auch immer richtig entscheiden wird. Aber vielleicht sieht dieser Herrscher eben andere Probleme und leitet ganz andere Reformen ein?! Nur weil schnell entschieden werden kann, bedeutet noch nicht, dass auch richtig entschieden wird.

Wie sollen ungerechte Verhältnisse in einem Staat anders beseitigt werden, als durch den Protest der Massen?! Der Glaube, dass ein autoritäres Regime sich für die Belange der Bevölkerung interessiert, ist schon deshalb nicht überzeugend, weil einigen wenigen Machthabern wohl kaum bekannt sein wird, mit welchen Problemen die Menschen konfrontiert sind. Dazu müssten sie eine freie Presse, Proteste und Wahlen erlauben. Nur in einer Demokratie ist es möglich, Ungerechtigkeiten anzuprangern. Die Demokratie ist in dieser Hinsicht das einzige politische System, dass sich selbst korrigieren kann. Eine Diktatur erlaubt ja eben keine Korrektur.

Einwand drei gegen die Demokratie: Die Demokratie ist eine westliche Entwicklung, die in anderen Kulturen nicht funktioniert

Das dritte Argument gegen die Einführung einer Demokratie ist der Glaube, dass es sich um eine westliche Erfindung handle, die auf andere Kulturkreise nicht so einfach übertragbar ist. Dahinter verbirgt sich eine Kritik an der Universalisierbarkeit der Menschenrechte, die zu einer Demokratie dazugehören. Diesem Argument widmet Sen ein ganzes Kapitel. Die Kritik an den individuellen Menschenrechten ist dreifach:

1. Die Legitimitätskritik

Bei den Menschenrechten kann man nicht von Rechten sprechen, weil sie institutionsunabhängig sind. Es gebe sie selbst dann, wenn es keine Gerichte gebe, wo sie eingeklagt werden könnten. Rechte sind aber abhängig von Institutionen. Folglich gibt es keine Menschenrechte.

Diese Debatte wurde schon im Hinblick auf das Naturrecht geführt: Gibt es unveräußerlich Rechte oder sind alle Rechte erst durch einen Staat etabliert. Zunächst kann man sagen, dass es heute durchaus Institutionen gibt, wo sie eingeklagt werden können. Ferner gehen sie über das normale Recht hinaus und ergänzen es. Sen schlägt vor, sie als moralische Forderungen zu betrachten. Ein Beispiel hierfür wäre die Schlussakte von Helsinki, wo der kommunistische Block die Anerkennung gewisser Menschenrechte akzeptierte. Die polnische Solidarnoscbewegung berief sich auf diese Schlussakte bei ihren Protesten gegen das polnische Regime und war teilweise erfolgreich. Die Menschenrechte mögen vielleicht nicht immer rechtlich einklagbar sein, aber sie haben eine Wirkung.

2. Die Kohärenzkritik

Von Rechten kann nur dann gesprochen werden, wenn definiert werden kann, wer welche Pflichten hat. Weil bei den Menschenrechten aber nicht klar ist, wer eigentlich in der Pflicht steht, sie zu verwirklichen, kann man auch nicht von Rechten sprechen. Sens Antwort ist einfach: Wir alle stehen in der Pflicht, sie zu verwirklichen. Er verdeutlicht es mit den unvollkommenen Pflichten, die Kant eingeführt hat. Wir können zwar nicht strafrechtlich verfolgt werden, wenn wir diese Pflichten nicht einhalten, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht in der Pflicht stehen es trotzdem zu tun.

3. Die Kulturkritik

Die Menschenrechte und überhaupt die Individualrechte sind zutiefst westlich und können nicht auf andere Kulturen übertragen werden. Der asiatische Kulturkreis legt beispielsweise mehr Wert auf Ordnung und Disziplin, denn Rechte und Freiheiten. Diese Debatte wird bis heute geführt. Sen präsentiert interessante Argumente gegen diese Kulturkritik. Erstens hat auch der Westen eine lange Tradition von autoritären Denkern. Man wird auch hier Beispiele finden für die Ablehnung von Freiheitsrechten. Das kann verdeutlicht werden an Aristoteles, der viel über den Wert der Freiheit geschrieben hat, gleichzeitig aber überzeugt war, dass sie nur bestimmten Gruppen zukommen kann. Den Gleichheitsaspekt der Freiheit hat er abgelehnt. Das Gleiche findet sich heute in der asiatischen Kultur, die zwar bestimmten Gruppen ein großes Maß an Freiheit erlaubt, aber eben nicht allen Bevölkerungsgruppen. Die Einführung dieser Unterscheidung (der Wert der Freiheit und die Gleichheit der Freiheit) ist ein eleganter Beweis, der deutlich macht, worin das Problem liegt.

Sen merkt zu Recht an, dass auch in dem muslimischen und asiatischen Kulturkreis bestimmte Gruppen, meistens die Machthaber, ein großes Maß an Freiheit genießen, sie aber gleichzeitig argumentieren, dass es nicht jedem zukommen kann. Er offenbart damit den Zynismus der Machthaber. Gleichzeitig wehrt sich Sen gegen eine einseitige Interpretation der asiatischen und muslimischen Kultur, bei der nur gewisse Aspekte erwähnt werden. Sen zitiert einige Autoritäten (Konfuzius, Ashoka, Kautijla) die man eben auch anders lesen kann. Man findet auch in diesen Kulturkreis Beispiele, in denen die Freiheit des Einzelnen gelobt und Toleranz plädiert wird. Die Menschenrechte sind also durchaus auch mit der asiatischen und der muslimischen Kultur vereinbar. Sen hat jüngst ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht (Die Identitätsfalle), in dem er gegen die einseitige Interpretation von Identitäten vorgeht. In jeder Kultur finden sich sehr unterschiedliche Strömungen und Interpretationen der Frage: Was bedeutet asiatisch, muslimisch, westlich etc.?

Auch hier kritisiert er, dass es überwiegend die Machthaber sind, die gegen die Universalisierbarkeit der Menschenrechte opponieren. Aber haben diese wenigen Menschen ein Monopol auf diese Frage? Nein. Wichtiger wäre es die Menschen selbst entscheiden zu lassen, ob sie die asiatische und muslimische Kultur mit den Freiheitsrechten vereinbar ist. Aber gerade das wird nicht erlaubt. Vor wenigen Tagen hat der chinesische Menschenrechtsaktivist Liu Xioabo den Friedensnobelpreis erhalten für seinen gewaltlosen Einsatz für die Bürgerrechte. Die chinesische Regierung behauptet, er sei ein Krimineller, weil er gegen das Recht verstoßen hat. Er hingegen kämpft für mehr Bürgerrechte. Hat die chinesische Regierung in dieser Hinsicht mehr Recht als einer ihrer Bürger? Nein.

Schlussbetrachtung

Das sind nur einige Auszüge aus der reichhaltigen Argumentation von Sen. Abschließend sollen noch kurz einige andere Argumente vorgestellt werden. Sen hat gezeigt, dass bestimmte Verwirklichungschancen auch dann realisierbar sind, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Schulausbildung und Gesundheitsfürsorge ist durchaus auch in armen Ländern realisierbar und zwar weil es sich um arbeitsintensive Bereiche handelt und die Kosten relativ sind. Und eine gute Ausbildung und Gesundheit tragen dazu bei, dass die ökonomische Situation sich bessert.

Ebenso sind seine Ausführungen zur Geschlechtergerechtigkeit sehr überzeugend. Die Verwirklichungschancen von Frauen können durch eine gute Ausbildung und Jobmöglichkeiten verbessert werden. Das stärkt die Rolle der Frau, trägt zum Geburtenrückgang bei, ein Aspekt der gerade für arme Länder zu einen Problem geworden ist, und vermindert die Sterblichkeitsrate von Kindern.

Amartya Sen hat mit seinen Arbeiten viel zur einer Neubewertung des Entwicklungsprozesses beigetragen. Der Index für menschliche Entwicklung (HDI – Human Development Index) ist unter seiner Mitarbeit entwickelt worden und integriert viele seiner Ideen, wenn auch nicht alle. Der HDI misst sowohl die reale Kaufkraft pro Einwohner, die Einschulungs- und Alphabetenquote als auch die Lebenserwartung bei Geburt. Er misst also viel genauer, wie es um die Lebensqualität der Menschen aussieht.

Darüber hinaus sind viele Werke erschienen, die auf seinen Ideen basieren. Für die politische Wissenschaft ist er wegen der obigen Ausführung sehr wichtig. Sein Optimismus und seine Empathie mit den Menschen, denen es am schlechtesten geht, ist für viele ein Vorbild.